Ein Beutellabor

Durch eine Zusammenarbeit mit der Theatermacherin Anna Manzano habe ich wieder das Buch "Experiment und Exploration - Bildung als experimentelle Form der Welterschließung" von Sönke Ahrens (2011) in die Hand genommen. Der Begriff des Labors kam auf und ich erinnerte mich an diese Publikation, die ich im Seminar von Ute Neuber kennen gelernt hatte. Damals (ca. 2013) hatte ich das Buch geradezu verschlungen. Teile davon hatten mich seither begleitet. Beim lesen fiel mir auf, dass ich mir nicht mehr bewusst war, woher diese Einflüsse - die sich zu einer Selbstverständlichkeit in meiner Wahrnehmung der Dinge entwickelt haben - eigentlich gekommen waren.

 

Das Fundament des Buches ist der Gegensatz zweier Welterschließungsstrategien: Experiment und Exploration. Dieses Gegensatzpaar wird virtuos dem Unterschied zwischen Bildung (Experiment) und Lernen (Exploration) zugeschrieben. Eine weitere Besonderheit ist, dass Welterschließungsprozesse der Wissenschaft individuellen Welterschließungsprozessen gleich gesetzt werden. Beziehungsweise werde diese beiden Orte der Welterschließung verglichen und Gemeinsamkeiten aufgedeckt.

 

In einem beeindruckenden Sammelsurium an Zitaten und Verweisen auf Vertreter*innen der Bildungs- und Wissenschaftstheorie fand ich komplexe Erkundungen gesellschaftlicher Erkenntnisprozesse anhand von Technologie.

Diese haben unter anderem auch die Symbole meines Tarotkartensystems erheblich mitgestaltet. Dort zeichnet der Kreis die Außengrenze eines Bewusstseins - das Ich als abgeschlossene Monade. Die Monade wird mit diesem Buch beim zweiten in die Hand Nehmen noch ein Mal mehr zu einem*r Wissenschafter*in, die*der das Scheitern als Bedingung Neuen annehmen kann und die Welt in Erschlossenes und Unerschlossenes einteilt, um sich dem Unerschlossenen anzunehmen. Sie schreckt nicht davor zurück, die erschlossenen Erkenntnisse mit den unbekannten, neuen Erkenntnissen umzuwerfen und neu zu denken.

 

Exploration | Experiment

 Auge | Hand

 Beobachtung | Bearbeitung

 Ingenieure | Bricoleure

Entdeckung | Erfindung

 Intention | Intuition

  Lernen | Bildung

(frei nach Ahrens 2011, S. 263)

 

Das Eintreten epistemischer Dinge in den Bewusstseinsraum meiner und deiner persönlichen Innenwelt ist das selbe Eintreten, wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die in Laboren statt finden und dabei in einen gesamtgesellschaftlichen Wissensraum eintreten. Das ausgewählte Experimentalsystem des Labors ist bereits erschlossene Voraussetzung für den zu erforschenden Gegenstand (Stichweh 1994). Es ist die Technologie des Labors. Das Labor als abgeschlossenes Experimentalsystem wird von einer Umwelt abgegrenzt. Diese Eigenschaft soll in einem folgenden Gedankenschritt zu einer Bildungsgrundlage der Zettelakademie werden.

 

In der Zettelakademie geht es um ein Sammeln von epistemischen Dingen. Ob für künstlerische Arbeit, wissenschaftliche Arbeit, oder Bildungsarbeit (autodidakt oder institutionell) - es geht um ein Sammeln von auf Zetteln geschriebenen Erkenntnissen, die in einer komplexen Tasche ein Ganzes bilden. Was dieses Ganze, welches sich mit diesem Sammelsurium erschließt ist, kann beim Sammeln noch nicht unbedingt erfasst werden.  Stück für Stück werden Aspekte einer Sache in die eigene Aufmerksamkeit gebracht und zueinander in Beziehung gesetzt. Der Forschungsgegenstand wird gebildet.

 

Die Urform der Tasche ist der Beutel. Er hat nur ein einziges Fach, in das all diese Dinge herein getragen werden können. Mit "A Carrier Bag Theory of Fiction" von Ursula K. Le Guin geht es leicht, diesen Beutel zum Archetyp des*der experimentellen Wissenschafters*in zu machen. Während Le Guin in diesem Essay das Sammeln und Aufbewahren zu einem Kontrapunkt der patriarchalen Heldengeschichte stilisiert, können wir den Beutel zu einem Kontrapunkt der explorativen Welterschließung erklären. Ein Beutel könnte als Technologieträger für das Zusammentragen von Einflüssen und Aspekten eines Forschungsgegenstandes gesehen werden. Die zusammengetragenen Einflüsse und Aspekte in Form von Beschreibungen, Werkzeugen, Methoden, Materialstudien, Essays, Zitaten, Ideen usw. werden im abgeschlossenen Beutel zu einem Modell des zu erforschenden Gegenstandes. Der Beutel ist das Labor, die Zettel und Fächer seine Technologie.

 

Ob dieser Beutel tatsächlich Fächer bekommen soll, mit denen Kategorien gebildet werden können, liegt im Technologiebedürfnis der*des Forschenden. Es kann im Laufe des experimentellen Forschens aufkommen, muss es aber nicht. An dieser Stelle kann man sich über eine Hierarchisierung, Heterarchisierung (Stichweh 1994), oder gar rhizomatischen Verzweigung (Delleuze/Guattari 1976) der gesammelten Zettel Gedanken machen, um dem Forschungsgegenstand die geeignete Struktur zu nähen, oder das gesammelte Material auf andere Weise zu bündeln und zu verbinden (Querverweise) (Ahrens 2017). Es kann eine Technologie entwickelt werden, um die Zusammenhänge und Beziehungen der Zettel nachvollziehbar zu machen.

 

In einer Retrospektive meines Schaffens wird mir klar: Es werden die beiden Bücher von Sönke Ahrens ("Experiment und Exploration" und "Das Zettelkasten-Prinzip") mit "The Carrier Bag Theory of Fiction" (Le Guin 2020) zu einem begreifbaren Bildungsansatz zusammen gesetzt. Auch das Häkeln des mathematischen Gedankens der boyschen Fläche spielt in dieser Entwicklung eine große Rolle. Nach dem Erlebnis, einen Gedanken häkeln zu können, fragte ich mich, wie gehäkelte Philosophie aussehen könnte. Nach dem Lesen von "Experiment und Exploration" machte sich in mir die Idee eines Bildungslabors breit. Die Zettelakademie ist wahrscheinlich ein Ergebnis aus diesen beiden Impulsen und dem Essay von Ursula K. Le Guin.

 

Die Brücke vom Beutel zum Labor soll eine Grundlage in der Zusammenarbeit mit Anna Manzano werden. Das Theater als Labor zu bezeichnen, macht es uns im Folgenden möglich, das Theater als Beutel zu sehen.

 

Bitte hinterlasst mir ein Kommentar und lasst mich wissen, ob ihr die Beschreibungen dieser Erkenntnisprozesse schlüssig findet! Ich würde mich ebenfalls sehr freuen, wenn Ihr Eure Assoziationen beschreibt!

Ich freue mich über Austausch und weiterführende Zusammenarbeit.

 

Bis Bald!

 

Eure Lilian

Literatur

 

Sönke Ahrens, Experiment und Exploration - Bildung als experimentelle Form der Welterschließung, transcript 2011

 

Ursula K. Le Guin, Am Anfang war der Beutel - Warum sich Fortschritts-Utopien an den Rand des Abgrunds führten und wie Denken in Rundungen die Grundlage für gutes Leben schafft, www.think-oya.de, 2020

 

Sönke Ahrens, Das Zettelkasten-Prinzip - Erfolgreich wissenschaftlich Schreiben und Studieren mit effektiven Notizen, http://takesmartnotes.com, 2017

 

Rudolf Stichweh, Zur Analyse von Experimantalsystemen, 1994

 

Gilles Delleuze/Felix Guatari, Rhizom, Merve Verlag 1976

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