Eine Verzettelung

Ich finde ein Zettelbündel über das Benutzen vom Zettelkleid. Darin ist eine Notiz über die "Orakelfunktion" der Zettelsammlung (warum auch immer, irgendwann hat es wohl Sinn ergeben, sie da hinein zu tun) und ich will es unbedingt ausprobieren! Dann stoße ich - Ich weiß jetzt nicht mehr, ob das im selben Bündel war - auf eine Notiz über die Idee, auf meinem Blog laufend meine aktuellen Gedanken sichtbar zu machen. Auf dem Blog denken. Und ich merke, dass ich dieses Vorhaben bisher kaum eingehalten habe.

Ich schaue andere Zettel durch und finde eine Notiz über den Filmemacher Hubert Sielecki. Ein Film, den ich von ihm auf YouTube finde, lässt mich denken, dass ich gern viel aufwendigere Projekte machen würde und, wenn man Kunst außerhalb einer Institution macht, man sich den Rahmen zum Kunstmachen selber schaffen muss. Also auch die materiellen, zeitlichen - die finanziellen Mittel. Was ich momentan durch meinen Lebensunterhalt selbst finanziert mache. Ich schreibe den Gedanken auf und erinnere mich gleichzeitig an eine Stelle in Sönke Ahrens Buch "Experiment und Exploration", wo es darum geht dass jedes Experiment einen sozialen Rahmen braucht, um anerkannt zu werden - "genügend glaubwürdige Männer" heißt es da im Zusammenhang mit der Akzeptanz des Fernrohrs als wissenschaftliches Instrument und ich denke, das hat etwas mit meinem Weitermachen mit der Zettelakademie zu tun. Ich brauche einen gesellschaftlichen Rahmen für all meine Arbeit damit. Einen Austausch, damit das alles mehr zur Wahrheit wird.

Nach dem Aufschreiben gehe ich in die Küche weil ich hungrig bin, esse ein paar Bissen kalten Ofenkarfiol mit Ziegen-Camembert und erinnere mich daran, dass ich die Orakelmöglichkeit meiner Zettelsammlung ausprobieren wollte. Ich stille meinen Hunger nicht vollständig und gehe zurück ins Arbeitszimmer, um die zettelbezogene Zettelsammlung zu suchen. Ich ziehe einen Zettel: 

Zuerst denke ich, es sei ein Zitat von Ranciéres "Der unwissende Lehrmeister" wo das Buch als mögliches Werkzeug einer selbstermächtigenden Bildung beschrieben wird. Dann sehe ich, dass das Zitat aber von "Rhizom" von Delleuze/Guattari stammt. Ich hole beide Bücher aus dem Regal und finde beide Stellen. Bei beiden Stellen geht es um eine Teilung der eigenen Wahrnehmung in Verbindung mit dem Gegenstand Buch und ich wundere mich. Ich wundere mich darüber, dass ich bei dem Zitat irrtümlich an Ranciére dachte und, dass die beiden Stellen tatsächlich vergleichbar sind, weiß aber noch nicht ganz wohin mit dieser Beobachtung.

Und ich wundere mich noch mehr, als ich mich darüber hinaus daran erinnere, dass ich eigentlich vor zwei Tagen genau davon in ganz anderen Zusammenhängen geschrieben habe. Nämlich in einer Auseinandersetzung mit Symbolen, die ich aus dem Tarot heraus entwickelt habe. Tatsächlich sind diese Symbole stark von Sönke Ahrens erwähntem Buch beeinflusst und die Teilung spielt eine zentrale Rolle. Die Verbindung zwischen all diesen Quellen hat sich mir allerdings gefühlt zufällig gezeigt.

Ein Zettelorakel?

 

 

Bei dem Tarotsymbol, über das ich geschrieben habe, handelt es sich um die Sechs von Gelb.

 

 

Es geht hier um die Benennung eines Dazwischen.

 

Sechs von Gelb

Der Name des Dazwischen

Ein Quadrat steigt aus zwei Kreishälften empor. Ein neuer Gedanke führt zu neuem Leben. Durch die Teilung eines Ganzen ist etwas Neues entstanden. Aus der Abgrenzung zweier Dinge entsteht ein Dazwischen, aus dem Veränderung passieren kann. Das Dazwischen zu benennen ist der erste Schritt in eine neue Welt.

 

In jedem Vergleich zu einer Komplexität im Außen entsteht ein Spalt - ein Auseinanderklaffen - eine Teilung. So verstehe ich es. Es kann auch das Benennen eines Traumas sein - zum Beispiel das Benennen von sozialer Ungerechtigkeit mit dem Begriff der Klasse. Dieser Begriff ist mit der Grund, warum vor einigen Tagen ein Treffen zwischen mir und dem Erziehungswissenschafter Jan Niggemann zustande kam. Und hier spinnt sich das Netz um all dieses wundersame Zusammenkommen rund um das Thema der Teilung in der eigenen Wahrnehmung auf eigenartige Weise noch weiter. Nach diesem Treffen mit Jan wurde mir bewusst, dass ich das gesamte Projekt der Zettelakademie in völlig neuer Beziehung sehen kann. Dadurch, dass er zu gefühlt allem, worum es mir in diesem Projekt geht, einen Zugang hat und mit mir in Dialog sein kann, bringt seine Anwesenheit, seine Persönlichkeit, einen neuen Aspekt in mein Denken über das Projekt. Genauso, wie es von Deuleuze/Guattari und Ranciére dem Buch zugeschrieben wird, bringt hier eine Person eine bisher unbekannte Position in mein Gedankengefüge. Es entsteht etwas Neues, das zu einer Veränderung in meiner Wahrnehmung der Welt und meiner Entscheidungen führt.

Dass in dem Zettelhaufen, der sich auf meinem Tisch ausgebreitet hat, auch noch Notizen vom Mai 2021 liegen, die ich während eines Online-Vortrages von Sönke Ahrens machte, und in denen es genau darum geht, macht mich ganz schwindelig.

Und dann wird mir klar, wohin mit alledem: auf den Blog!

Mir wird klar, dass ich mit dieser unausgegorenen Erkenntnis das machen kann, was ich mir in meiner anfangs erwähnten Notiz vorgenommen habe. Nämlich meine Gedanken zugänglich zu machen, um so in den ersehnten Austausch gehen zu können.

 

Und jetzt ist hier eine ganz ungewöhnliche Erzählung entstanden, die genauso gut ohne der Erwähnung der ganzen Zettel, Bücher und Menschen, die zu diesem Text geführt haben, ausgekommen wäre. Dann würden wir möglicherweise Theorie dazu sagen (wenngleich eine eher lückenhafte Theorie) und sie stattdessen mit allen möglichen Fußnoten versehen. Auch meine Tarotüberlegungen hätten da wahrscheinlich keinen Platz gefunden. Aber es ist etwas anderes geworden. Es ist vor allem eine Erzählung von einem intimen Dialog mit meiner Zettelsammlung geworden. Ein kurzer Einblick in ein großes Chaos.

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